Kulturelle, sprachliche und emotionale Bedeutung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz
von Tobias Münzenhofer
Fortbildung zum Artikelthema
Zur Fortbildung„Die größte Kompetenz in der Schmerzbegleitung ist Empathie.“

Schmerzen bei Menschen mit Demenz stellen Pflegende vor besondere Herausforderungen. Studien zeigen, dass etwa die Hälfte aller Pflegeheimbewohner unter Schmerzen leidet, doch rund 20 % erhalten keine ausreichende Schmerztherapie. Häufig bleiben Schmerzen unerkannt, da Menschen mit Demenz ihre Schmerzen nicht mehr klar benennen können oder ihre Beschwerden anders ausdrücken. Unbehandelte Schmerzen führen dann oft zu Unruhe oder „herausforderndem Verhalten“ – etwa Aggressionen, Rückzug oder Schlafstörungen – was den Pflegealltag zusätzlich belastet. Umso wichtiger ist es, Schmerzen ganzheitlich zu verstehen und zu erkennen. Schmerzen sind nicht nur ein körperliches Phänomen, sondern haben kulturelle, sprachliche und emotionale Dimensionen, die in der Versorgung von Menschen mit Demenz berücksichtigt werden müssen. Dieser Fachvortrag beleuchtet alle drei Perspektiven ausführlich und praxisnah. Ziel ist es, Pflege- und Betreuungskräften ein tieferes Verständnis an die Hand zu geben – aus der Praxis für die Praxis – damit sie Schmerzäußerungen besser deuten und wirksame Interventionen durchführen können.
Beispiele aus typischen Pflegesituationen, aktuelle pflegewissenschaftliche Konzepte (wie das Total-Pain-Konzept, Schmerzerfassung, Validation, kultursensibles Assessment) sowie Erkenntnisse aus der Kulturgeschichte des Schmerzes werden integriert, um Handlungskompetenzen im Umgang mit demenziell erkrankten Schmerzpatienten zu stärke.
Ganzheitliches Schmerzverständnis: Das Total-Pain-Konzept
Bevor wir auf die spezifischen kulturellen, sprachlichen und emotionalen Aspekte eingehen, ist es wichtig, ein ganzheitliches Verständnis von Schmerz zu haben. In der Hospiz- und Palliativarbeit hat die Begründerin Cicely Saunders bereits in den 1960er Jahren das Konzept des „Totalen Schmerzes“ (Total Pain) formuliert. Dieses besagt, dass Schmerz ein vielschichtiges Erlebnis ist, das vier Dimensionen umfasst: körperliche, psychische (seelische), soziale und spirituelle Schmerzen. Körperlicher Schmerz mag zunächst im Vordergrund stehen (z. B. Tumorschmerz, Arthrose, Wundschmerz), doch Menschen mit Demenz leiden oft zugleich an seelischen, sozialen oder spirituellen Schmerzen.
- Körperlicher Schmerz: z. B. Schmerzen durch akute oder chronische Erkrankungen, Altersgebrechen (Gelenk- und Rückenschmerzen, Kopfschmerzen etc.).
- Sozialer Schmerz: z. B. das Gefühl von Einsamkeit, das Vermissen von Angehörigen, der Verlust selbstständiger Lebensführung (etwa auf Hilfe angewiesen zu sein oder finanzielle Sorgen zu haben).
- Spiritueller Schmerz: z. B. das Empfinden, nutzlos oder wertlos zu sein, die Krankheit als Strafe anzusehen, keinen Sinn im Leben mehr zu spüren.
- Psychischer (seelischer) Schmerz: z. B. Ängste, Verzweiflung, Verwirrtheit, Hilflosigkeit oder das Gefühl von Unsicherheit – typische emotionale Qualen, die Menschen mit Demenz erleben, etwa wenn sie „nach Hause wollen“ oder mit belastenden Erinnerungen (Krieg, Flucht, Trauma) konfrontiert werden.
Dieses Total-Pain-Modell macht deutlich, dass Schmerz nicht nur ein Nervensignal ist, sondern ein komplexes Erleben, das von Lebenserfahrungen, Gefühlen und sozialem Umfeld mitbestimmt wird. Schmerz beeinflusst das ganze Leben – und umgekehrt: Die Lebensgeschichte und aktuelle Lebenssituation definieren, wie intensiv Schmerz empfunden und bewertet wird. Für die Pflege bedeutet das: Ein rein körperlich-medizinisches Schmerzmanagement greift zu kurz, wenn seelischer, sozialer oder spiritueller Schmerz unbeachtet bleiben. Gerade bei Menschen mit Demenz verschwimmen diese Ebenen oft. Ein Bewohner, der trotz ausreichender Medikation weiterhin stöhnt oder klagt, könnte unter „totem Schmerz“ im weiteren Sinne leiden: Vielleicht ist keine körperliche Ursache mehr zu finden, doch seelische, soziale oder spirituelle Schmerzen lassen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Praxistipp: Wenn Schmerzen trotz angemessener Therapie nicht besser werden, ziehen Sie in Betracht, dass nicht-körperliche Schmerzursachen eine Rolle spielen könnten. Seelischen, sozialen oder spirituellen Schmerz kann man nicht immer mit Medikamenten „nehmen“.
Aber Pflegende können da sein, trösten und dafür sorgen, dass der Mensch im Schmerz nicht alleingelassen wird. Dies erhöht die Lebensqualität auch dann, wenn die Schmerzen an sich nicht völlig verschwinden.
Im Folgenden beleuchten wir nun die drei angekündigten Perspektiven – kulturell, sprachlich, emotional – und verknüpfen sie mit diesem ganzheitlichen Verständnis von Schmerz.
Kulturelle Perspektiven: Schmerz und Kultur bei Demenz
Schmerz wird in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich wahrgenommen und ausgedrückt. Werte, Glaubenssätze und Lebenserfahrungen prägen, was als Schmerz empfunden wird und wie Menschen damit umgehen. Pflegekräfte erleben im Alltag, dass kulturelle Hintergründe das Schmerzverhalten beeinflussen – insbesondere bei älteren Menschen, deren Werte in früheren Jahrzehnten geformt wurden.
1. Kulturgeschichte und Generationenerfahrung: Die heute pflegebedürftige Generation hat oft Entbehrungen erlitten. Viele der hochbetagten Bewohner in Altenpflege und Demenzbetreuung haben Krieg, Flucht, Nachkriegszeit und Not erlebt. Jahrzehntelang wurde über solches Leid geschwiegen – Schmerzen, ob körperlich oder seelisch, galten als etwas, das man stark und still ertragen muss. Sprichwörter wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Zähne zusammenbeißen“ reflektieren diese Haltung. Noch heute sehen viele alte Menschen Schmerz als Herausforderung, als Zeichen von Schwäche oder als Strafe für vermeintliche Schuld – und sie möchten niemandem zur Last fallen. Folglich sprechen sie ungern über Schmerz und neigen dazu, Beschwerden herunterzuspielen. Eine demenziell erkrankte Seniorin mag z. B. trotz Arthroseschmerzen auf Nachfragen immer wieder sagen „Ach, es geht schon“, weil sie Schmerzen als normalen Teil des Alters ansieht und kein Aufheben darum machen will. Diese kulturell geprägte Stoik erfordert von Pflegenden besonderes Gespür: Schmerzen werden nicht offen geäußert und müssen durch behutsames Nachfragen oder Beobachten entlarvt werden. Andererseits dürfen Pflegende Schmerzäußerungen nicht vorschnell als „altersbedingt“ abtun. Oft heißt es schnell, ein Verhalten sei „typisch Demenz“ oder ein Leiden „gehörig zum Alter“, wo in Wahrheit vielleicht alte Wunden und Traumata wieder aufbrechen. Unverarbeitete traumatische Erlebnisse (z. B. aus Kriegszeiten) können im Alter – und insbesondere bei Demenz – erneut wirksam werden und zu psychischem Schmerz und auffälligem Verhalten führen. Ein Mensch, der in jungen Jahren Schreckliches ertragen musste, bleibt davon geprägt bis ins hohe Alter. Wenn eine demenzkranke Bewohnerin nachts schreiend aufwacht, könnte ein früher Luftangriff oder Gewalterlebnis sich als Angstschmerz bemerkbar machen. Kultursensibles Pflegehandeln bedeutet hier, die Lebensgeschichte zu kennen und ernst zu nehmen. So kann man Verhaltensweisen besser verstehen und traumasensibel reagieren (z. B. beruhigend validieren statt Schimpfen, beim Waschen plötzliche Berührungen vermeiden, die an Übergriffe erinnern könnten).
2. Unterschiede im Schmerzausdruck zwischen Kulturen: Nicht nur die Generation, auch die ethnische oder regionale Kultur beeinflusst, wie Schmerz gezeigt wird. In Mitteleuropa gilt es als tugendhaft, Gefühle und Schmerzen kontrolliert, „beherrscht“ zu zeigen. Offene Klagen oder lautes Schmerzverhalten in der Öffentlichkeit werden oft als unangemessen empfunden.
Im Gegensatz dazu ist in vielen anderen Kulturen – z. B. im Mittelmeerraum, in Vorderasien oder Lateinamerika – eine expressive Schmerzdarstellung sozial akzeptiert oder sogar erwartet. Dort gilt: „Nur wer seinen Schmerz deutlich zeigt, wird als krank angesehen und erhält Hilfe.“ Ein Mensch aus diesen Regionen, der laut stöhnt, klagt oder theatralisch auf Schmerzen reagiert, folgt kulturellen Normen, um Unterstützung zu mobilisieren.
In der Pflegepraxis kann es hier leicht zu Missverständnissen kommen: Pflegekräfte aus der einen Kultur könnten expressive Schmerzäußerungen einer anderen Kultur als Übertreibung abtun oder irritiert reagieren, weil ihnen die Intensität fremd ist. So wurden in deutschen Krankenhäusern etwa laute Klagen mancher Patienten vorschnell mit Spitznamen wie „Mama-mia-Syndrom“ belächelt – was das Unverständnis der Pflegenden zeigt. Solche Urteile sind gefährlich, denn unabhängig von unserer eigenen Wahrnehmung gilt: Jede geäußerte Schmerzempfindung ist ernst zu nehmen. Auch wenn der beobachtete Schmerz subjektiv „zu stark“ wirkt oder medizinisch nicht vollständig erklärbar ist, steckt dahinter für den Betroffenen echtes Leid. Kulturpsychologisch wissen wir, dass Schmerzpräsentation oft mehr Bedeutung hat als der physiologische Befund. Pflegende sollten daher bei sehr starken Schmerzäußerungen aus ungewohnten Kulturkreisen weder hilflos verzagen noch den Patienten als „Simulant“ abstempeln, sondern versuchen zu verstehen, was der Schmerz für den Betreffenden bedeutet und welche Hilfe er sich davon erhofft.
Umgekehrt gibt es Kulturen, in denen Patienten Schmerzen eher verbergen oder zögerlich äußern. Einige asiatische oder arabische Kulturen legen großen Wert auf Zurückhaltung und Respekt vor Autoritätspersonen wie Ärzten und Pflegefachpersonen. Patienten aus diesen Hintergründen fragen kaum aktiv nach Schmerzmitteln, aus Höflichkeit oder Furcht, lästig zu fallen. Sie erwarten vielmehr, dass die Fachperson von sich aus alles Nötige tut. Hier müssen Pflegende proaktiv nachfragen und Angebote wiederholen. Beispielsweise gilt in China die Sitte, ein Angebot (etwa ein Schmerzmittel) beim ersten Mal aus Höflichkeit abzulehnen – es wäre unhöflich, sofort zuzusagen. Pflegekräfte sollten also ein abgelehntes Schmerzmittel später erneut anbieten und nicht automatisch davon ausgehen, dass kein Bedarf besteht.
3. Sprache, Religion und Schmerzverständnis: Kultur beeinflusst auch die Sprache des Schmerzes. Verschiedene Sprachen und Dialekte haben unterschiedliche Begriffe und Metaphern für Schmerz, die für Außenstehende missverständlich sein können. In einigen Kulturen wird Schmerz ganzheitlich und leiblich beschrieben statt auf ein Organ begrenzt. Zum Beispiel sagen manche Patienten aus Südosteuropa oder dem Nahen Osten nicht „Mein Knie tut weh“, sondern „Überall Schmerz“ oder „Alles ist krank“, weil sie sich als ganzer Mensch vom Schmerz betroffen fühlen. Seelische und körperliche Schmerzen werden dabei nicht getrennt – psychische Konflikte drücken sich als Ganzkörperschmerz aus. Hintergrund ist oft auch die Stigmatisierung psychischer Krankheiten: In traditionellen Milieus (z. B. ländlichen Regionen der Türkei, arabischen und asiatischen Ländern) gilt es als ehrenrührig, ein psychisches Problem zuzugeben.
Statt „Ich bin traurig“ heißt es dann metaphorisch: „Meine Leber brennt“ – ein Ausdruck für Kummer und Sorge, in etwa vergleichbar mit der deutschen Redewendung „Mir zerreißt es das Herz“. Andere bildhafte Klagen wie „Meine Gallenblase ist geplatzt“ (für „ich bin vor Schreck fast umgefallen“) oder „Mein Bauchnabel ist gefallen“ (für Inneres Ungleichgewicht) wurden beobachtet. Solche metaphorischen Schilderungen wirken bizarr, sind aber kulturell geprägte Schmerzsprachen, die oft Überforderung, Trauer oder Angst ausdrücken.
Praxisbeispiel (kulturelle Schmerzsprache): Ein demenzkranker Bewohner türkischer Herkunft ruft wiederholt „Canım yanıyor!“ (“Meine Seele brennt!”) und hält sich den Bauch. Eine unerfahrene Pflegekraft sucht vergeblich nach Magenproblemen. Ein interkulturell geschulter Kollege erkennt jedoch, dass der Mann damit seelischen Schmerz meint – möglicherweise vermisst er seine verstorbene Frau. Durch behutsames Nachfragen in seiner Sprache und das Einbeziehen des Sohns wird klar, dass der Bewohner sich einsam fühlt und glaubt, „verrückt zu werden“. Man bietet ihm daraufhin vermehrt Gespräche und seelsorgerische Betreuung an. Der Satz „Meine Seele brennt“ kommt danach kaum noch vor; stattdessen kann er über seine Trauer sprechen. Dieses Beispiel verdeutlicht: Kultureller Hintergrund und Sprache sind der Schlüssel, um Schmerzäußerungen richtig zu deuten. Pflegekräfte sollten – wenn möglich – Grundbegriffe der Muttersprache ihrer Bewohnenden kennen (z. B. „Schmerz“ oder „weh tun“ in verschiedenen Sprachen) oder Dolmetscher/Angehörige hinzuziehen. Ebenso lohnt es sich zu erfragen, welche Bedeutung Schmerz für den Einzelnen hat. Manche sehen ihn als „Prüfung Gottes“ und fügen sich fatalistisch, andere empfinden ihn als Unrecht, gegen das sie ankämpfen wollen. Dieses kulturelle Schmerzkonzept beeinflusst die Compliance: Ein Patient, der Schmerz als Gotteswillen akzeptiert, wird evtl. Therapien passiv über sich ergehen lassen; jemand, der Schmerz als Feind sieht, wird aktiv Linderung fordern.
Kulturell sensitive Schmerzerfassung: Angesichts all dieser Unterschiede muss Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz kultursensibel erfolgen. Konkret heißt das: Die Frage „Haben Sie Schmerzen?“ ist nicht immer verständlich oder zielführend. Gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund oder Dialektsprechern hilft oft eine umgangssprachlichere Formulierung wie „Tut Ihnen etwas weh?“ oder „Wo tut es weh?“. In manchen Kulturen spricht man nicht direkt über „Schmerz“ als abstrakten Begriff – diese Leute reagieren besser auf Fragen nach konkreten Empfindungen an Körperstellen. Wichtig ist auch, nonverbale Signale im kulturellen Kontext zu interpretieren: Ein im Heimatland sehr würdebewusster älterer Herr mag Schmerzen verbergen, aber vielleicht verrät ein gequältes Lächeln oder das Festhalten am Stuhl dennoch sein Leid. Pflegekräfte sollten ihre eigenen kulturellen Brillen reflektieren und offen bleiben für ungewohnte Ausdrucksweisen. Interkulturelle Kompetenz und Biografiearbeit helfen, kulturelles Schmerzverhalten richtig einzuordnen und entsprechend zu handeln.
Zusammenfassend spielen kulturelle Faktoren eine erhebliche Rolle dabei, ob und wie Schmerz bei Demenzkranken zum Ausdruck kommt.
Ein kultursensibler Ansatz – geprägt von Offenheit, Respekt und Neugier gegenüber dem individuellen Hintergrund – ermöglicht es, versteckte Schmerzen aufzudecken und übersehene Leiden zu lindern.
Schmerzbewältigung – kulturell geprägte Strategien des Umgangs mit Schmerz
Schmerzen werden nicht nur unterschiedlich empfunden, sondern auch verschieden bewältigt – abhängig von Kultur, Religion, Lebenserfahrung und individuellen Überzeugungen. Gerade bei Menschen mit Demenz, deren kognitive Fähigkeiten eingeschränkt sind, gewinnen bewährte und früh verinnerlichte Bewältigungsmuster an Bedeutung. Für Pflegekräfte bedeutet das: Wer diese kulturell und biografisch geprägten Schmerzbewältigungsstrategien kennt, kann Verhalten besser einordnen, individueller begleiten und passende Maßnahmen ergreifen.
Kulturell geprägte Schmerzbewältigung nach Kohnen (2007)
1. Fatalistische Schmerzbewältigung: Schmerz wird als göttlicher Wille akzeptiert und mit innerer Ergebenheit getragen. Typisch etwa für traditionell lebende Filipinos, aber auch in Teilen der arabischen oder afrikanischen Welt verbreitet. Der Glaube lautet: Gott sendet den Schmerz – und gibt auch die Kraft, ihn zu ertragen. Menschen mit dieser Haltung klagen selten laut, sondern leiden still – was in der Pflege leicht zu übersehen führt.
2. Religiöse Schmerzbewältigung: Hier wird Schmerz als Prüfung Gottes verstanden, die dem spirituellen Wachstum dient. In verschiedenen Religionen – Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus – findet sich diese Sichtweise: Schmerzen sollen zum Nachdenken über den Lebensweg anregen oder werden als „karmischer Ausgleich“ betrachtet. In der Pflege begegnet man etwa gläubigen jüdischen Patienten, die Schmerzmedikation ablehnen, oder christlichen Patienten, die Leiden bewusst in Anlehnung an Christus ertragen wollen. Auch muslimische Patienten deuten Schmerz als Prüfung oder Sühne.
3. Willentliche Schmerzbewältigung: Schmerz wird als Schwäche gedeutet – also bewusst unterdrückt und nicht gezeigt. Menschen mit dieser Strategie glauben, dass nur Selbstdisziplin den Schmerz bezwingen kann. In der Pflege äußert sich das oft in stoischem Verhalten: Der Bewohner zieht sich zurück, zeigt kaum Reaktionen, leidet still. Hier ist sensible Beobachtung gefragt, um nicht zu übersehen, dass stumme Resignation ein Hinweis auf Schmerzen sein kann.
4. Familiäre Schmerzbewältigung: In kollektivistisch geprägten Kulturen – z. B. Mittelmeerraum, Türkei, Naher Osten – wird Schmerz innerhalb der Familie bewältigt. Ausdrucksstarke Klagen dienen dazu, die Unterstützung der Familie zu aktivieren. Pflegekräfte erleben deshalb häufig, dass Bewohner aus diesen Regionen laut und emotional auf Schmerz reagieren – ein Verhalten, das nicht übertrieben, sondern kulturbedingt ist. Werden diese Signale nicht ernst genommen, kann dies zu Missverständnissen und Vertrauensverlust führen.
5. Rationale Schmerzbewältigung: In westlich geprägten Ländern wie Deutschland, Österreich oder den USA dominiert ein medizinisch-rationales Schmerzverständnis: Schmerz ist objektivierbar, erklärbar und therapierbar. Patienten erwarten eine klare Diagnose, schildern ihre Symptome möglichst sachlich und vertrauen auf technische oder pharmakologische Lösungen. Dieses Modell dominiert die Schulmedizin, hat aber seine Grenzen – insbesondere, wenn emotionale, soziale oder spirituelle Faktoren unbeachtet bleiben.
Pflegende begegnen in ihrem Alltag Menschen mit unterschiedlichen, kulturell geprägten Schmerzbewältigungsstrategien. Es ist wichtig, diese zu erkennen und nicht nach dem eigenen Maßstab zu bewerten, sondern kultursensibel zu begleiten. Beispielsweise kann eine stille, willensgetriebene Haltung bedeuten, dass der Bewohner trotz starker Schmerzen keine Hilfe verlangt – hier muss proaktiv beobachtet und angeboten werden. Umgekehrt ist ein lauter, klagender Bewohner aus einer kollektivistischen Kultur nicht simulativ, sondern folgt seiner Erwartung, dass Schmerz sichtbar gemacht werden muss, um Unterstützung zu erhalten.
Eine validierende, respektvolle Haltung ist entscheidend, um unterschiedliche Ausdrucksformen ernst zu nehmen. Schmerzbewältigung ist individuell – Pflegekräfte sollten Fragen stellen statt Urteilen: „Wie gehen Sie mit Schmerzen um?“, „Was hilft Ihnen, wenn es weh tut?“, „Gibt es etwas, das Sie in solchen Momenten besonders tröstet?“ Diese Offenheit stärkt die Beziehung und fördert eine passgenaue, biografiebezogene Schmerzbegleitung.
Fazit zur Schmerzbewältigung: Kulturelle, religiöse und persönliche Einstellungen prägen maßgeblich, wie Menschen mit Schmerz umgehen. Für Pflegende ist es eine zentrale Aufgabe, diese Vielfalt zu erkennen, nicht zu bewerten und durch empathisches, kulturkompetentes Handeln passende Unterstützungsangebote zu machen. Im Kontext von Demenz wird dies besonders bedeutsam, da verbale Kommunikation schwindet und gewohnte Bewältigungsmuster zunehmend unbewusst wirken – sie zu erkennen hilft, Schmerzen besser zu verstehen und gezielter zu lindern.
Sprachliche Aspekte: Kommunikation von Schmerz trotz Demenz
Sprache ist der Schlüssel zur Schmerzäußerung – doch genau Sprache geht bei Demenz oft verloren. Viele Menschen mit Demenz entwickeln Wortfindungsstörungen, Sprachverarmung oder verlieren im Spätstadium nahezu die Fähigkeit, sich verbal mitzuteilen.
Schmerzen, die man nicht in Worte fassen kann, verschwinden jedoch nicht – sie suchen sich andere Ausdruckswege. In diesem Abschnitt betrachten wir die sprachlichen Hürden und Möglichkeiten in der Schmerzerfassung: von der Wahl der richtigen Worte bis zu nonverbaler Kommunikation und Hilfsmitteln.
1. Veränderte Schmerzwahrnehmung und Sprachverlust: Mit fortschreitender Demenz verändert sich auch das Verständnis und Empfinden von Schmerz. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Schmerzreize im Alter langsamer und gedämpfter wahrgenommen werden. Verschiedene Demenzformen beeinflussen Schmerzschwelle und -toleranz unterschiedlich. Überschreitet ein Reiz jedoch die individuelle Toleranz, fehlt bei Demenzkranken oft die hemmende Verarbeitung im Gehirn – die Schmerzmimik ist dann sogar deutlicher als bei gleichaltrigen Gesunden. Gleichzeitig verlieren demenziell Erkrankte allmählich das gelernte Konzept davon, was Schmerz ist. Sie können einen Schmerzreiz nicht mehr richtig deuten oder einer Ursache zuordnen („Wo im Körper ist es? Kommt es von einer Krankheit?“). Dieses kognitive Bedeutungsdefizit führt dazu, dass andere unangenehme Empfindungen oder Emotionen als „Schmerz“ interpretiert werden. So kann es passieren, dass ein Mensch mit Demenz „Aua!“ ruft, obwohl ihm körperlich nichts weh tut – etwa, weil er sich erschreckt hat, einsam fühlt oder Angst hat. Die Laute („Aua“) und das eigentlich Gemeinte entkoppeln sich. Umgekehrt äußern manche Patienten trotz starker Schmerzen keine klaren „Schmerz“-Worte, sondern zeigen nur unspezifische Unruhe oder rufen nach längst verstorbenen Personen. Hier müssen Pflegende eine Übersetzungsleistung erbringen: Körperliche und seelische Empfindungen vermischen sich in der Demenzsprache, und was gesagt oder geschrien wird, meint nicht immer das Offensichtliche.
2. Einfacher, zugänglicher Sprachgebrauch: Wie schon im kulturellen Teil erwähnt, kommt es sehr darauf an, wie wir nach Schmerzen fragen. Fachbegriffe wie „Schmerzskala“ oder zu offene Fragen wie „Wo haben Sie Beschwerden?“ überfordern kognitiv eingeschränkte Menschen. Konkrete, kurze Fragen in einfacher Sprache sind erfolgreicher. Statt „Haben Sie Schmerzen?“ kann man fragen: „Tut Ihr Bauch weh?“ „Weh?“ (und dabei auf den Bauch zeigen). Menschen mit Demenz reagieren oft besser auf Schlüsselwörter aus ihrer früheren Alltagssprache. Manche erinnern sich z. B. an das Wort „Wehwehchen“ aus Kindertagen eher als an „Schmerz“. Auch nonverbale Unterstützung ist wichtig: Wenn Sie fragen „Tut es hier weh?“ und gleichzeitig sanft die entsprechende Stelle berühren oder ein schmerzverzerrtes Gesicht machen, erleichtert das das Verstehen.
3. Verlust der Muttersprache oder Rückkehr zur Muttersprache: In mehrsprachigen Biografien und sogar bei Dialektsprechern beobachtet man bei Demenz häufig, dass die zuletzt erlernte Sprache zuerst verloren geht, während frühere Sprachschichten wieder hervortreten. Beispielsweise kann eine Dame, die als Erwachsene Deutsch lernte, im Alter plötzlich nur noch in ihrer Muttersprache Polnisch antworten. Wenn solche Personen Schmerzen haben, werden sie das vermutlich in ihrer vertrautesten Sprache auszudrücken versuchen. Pflegende stehen hier vor der Aufgabe, Sprachbarrieren zu überwinden.
Praktisch bedeutet das: Nutzen Sie – falls verfügbar – zweisprachige Mitarbeiter, Angehörige oder Dolmetscher-Apps, um Schmerzäußerungen zu verstehen. Lernen Sie ein paar wichtige Wörter in der Muttersprache des Bewohners, etwa „Schmerz“, „weh“, „ja/nein“, „Bauch“, „Kopf“ etc. Oft genügen schon Gesten und Mimik: Ein fragender Blick und Zeigen auf ein Körperteil, verbunden mit dem Wort „weh?“ in der jeweiligen Sprache, kann dem Menschen ermöglichen, zu nicken oder den schmerzenden Bereich zu zeigen.
Beispiel: Ein demenzkranker Bewohner aus Italien, der kaum noch Deutsch spricht, wiederholt immer „male, male“ (ital. „schlecht“ oder umgangssprachlich „es tut weh“). Die Pflegerin kennt das Wort nicht und deutet sein Stöhnen als generelle Unzufriedenheit. Ein Angehöriger klärt sie auf, dass „male“ auf Schmerzen hindeuten könnte. Mit dieser Erkenntnis kann die Pflegerin gezielt nachfragen („Testa male?“ und auf den Kopf zeigen) – worauf der Bewohner eifrig nickt. Es stellt sich heraus, dass er Kopfschmerzen hat. Dieser Fall zeigt, wie wichtig die Berücksichtigung der Erstsprache ist, um Schmerzen nicht zu übersehen.
4. Schwierigkeit der sprachlichen Schilderung: Selbst, wenn Menschen mit Demenz noch sprechen können, bleibt Schmerz ein schwer in Worte zu fassendes Phänomen. Viele Schmerzbegriffe in jeder Sprache tragen eine emotionale Färbung und sind vage. Zum Beispiel sagt ein Bewohner vielleicht: „Ich fühle mich zermartert.“ Ist das eine körperliche Qual, oder fühlt er sich seelisch gequält? Hier hilft es, behutsam nachzufragen und Worte anzubieten: „Ist es ein stechender Schmerz? Brennt es? Oder drückt es eher?“ Allerdings können feine Unterschiede (brennen, stechen, bohren) für kognitiv Beeinträchtigte zu schwierig sein. Dann lieber einfacher: „Zeigen Sie mir mit der Hand, wie groß der Schmerz ist“ (große oder kleine Geste) oder „Ist es ein großes Weh oder ein kleines Weh?“. Validationstechniken können ebenfalls unterstützen: Dabei geht es darum, die Äußerungen des Betroffenen aufzunehmen und zu bestätigen, ohne zu korrigieren. Wenn eine Bewohnerin klagt „Alles tut weh, ich kann nicht mehr!“, könnte man validierend antworten: „Es ist alles zu viel gerade, gell? Sie haben starke Schmerzen und sind ganz erschöpft.“ Diese einfühlsame Spiegelung zeigt der Person, dass ihr Zustand verstanden wird. Oft beruhigt sich ein Mensch schon etwas, wenn er das Gefühl hat, „sie verstehen mich“ – auch wenn keine unmittelbare Lösung da ist. Validation als Grundhaltung bedeutet, ernst zu nehmen, was der Mensch sagt (unabhängig davon, ob es objektiv stimmt) und die Gefühle dahinter anzuerkennen. Dadurch verbessert sich die Kommunikation: Der Betroffene fasst Vertrauen und die Pflegekraft bekommt evtl. mehr Hinweise auf die Art des Schmerzes.
5. Nonverbale Kommunikation und Schmerzassessment-Tools: In mittleren bis schweren Demenzstadien bleibt Pflegenden vor allem die Beobachtung nonverbaler Zeichen, um Schmerzen aufzuspüren. Darauf verweist der DNQP-Expertenstandard: Bei Menschen mit Demenz sind lautsprachliche, mimische, verhaltensbezogene und physiologische Äußerungen auszuwerten, um Schmerz zu erkennen.
Typische nonverbale Schmerzindikatoren sind z. B.:
- Mimik: z.B. schmerzverzerrtes Gesicht, Stirnrunzeln, Zähne zusammenbeißen, angespannter Gesichtsausdruck.
- Lautäußerungen: Stöhnen, Seufzen, Wimmern, wiederholtes Rufen (auch unspezifische Rufe wie „Hilfe“ oder „Aua“), vermehrte verbale Aggression (Schimpfen) ohne erkennbaren Anlass.
- Körpersprache: Schonhaltungen (schont ein Bein, läuft gebückt), Nesteln, Schlagen oder Wegdrücken bei Berührung der schmerzhaften Stelle, Unruhe, Hin- und Herwiegen, Schütteln mit Kopf oder Händen.
- Physiologische Zeichen: Erhöhter Puls, Schwitzen, blasse oder gerötete Haut, veränderte Atmung (z. B. flache schnelle Atmung bei Schmerz).
Genau solche Beobachtungskriterien wurden in speziellen Schmerzassessment-Instrumenten für Demenz umgesetzt. In Deutschland verbreitet sind etwa die BESD-Skala (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz, basierend auf der amerikanischen PAINAD) und das BISAD (Beobachtungsinstrument für Schmerz bei alten Menschen mit Demenz). Die BESD erfasst fünf Kategorien: Atmung, negative Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und die Reaktion auf Trost. Jede Kategorie wird beobachtet und auf einer Skala bewertet, um einen Schmerzwert abzuleiten. BESD hat sich in Studien als sehr praktikabel und zuverlässig erwiesen, insbesondere wenn Pflegende den Patienten noch nicht gut kennen. Das BISAD hingegen erfordert, dass man das gewöhnliche Verhalten der Person kennt, um Abweichungen festzustellen – es eignet sich also besser, wenn vertraute Bezugspersonen vorhanden sind (oder Angehörige Auskunft geben können, z. B. im ambulanten Bereich). Weitere anerkannte Beobachtungsskalen sind Doloplus-2 (ein französisches Instrument für nonverbale ältere Menschen) oder ZOPA (zur Schmerzbeobachtung bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz). Wichtig ist: Kein Instrument kann das geschulte Auge und das Einfühlungsvermögen der Pflegekraft ersetzen – Intuition und Erfahrung sind gefragt, um die Zeichen richtig zu deuten. Aber solche Skalen bieten Leitfäden und erhöhen die Sicherheit, dass man nichts übersieht.
6. Sprachbarrieren im Team überwinden: Auch Pflegeteams selbst sind oft multikulturell zusammengesetzt. Hier sollte man sich gegenseitig unterstützen. Vielleicht erkennt die philippinische Pflegehelferin eher, wann eine philippinische Bewohnerin Schmerzen stoisch erträgt (Stichwort fatalistische Schmerzbewältigung: Schmerzen als Gottes Wille ergeben erdulden), während der deutsche Kollege das Unterschätzen würde. Umgekehrt kann die erfahrene Altenpflegerin dem jüngeren ausländischen Kollegen erklären, dass ein deutscher Kriegsveteran seine Schmerzen eher mit knapper Wortwahl andeutet, statt laut zu klagen. Offene Kommunikation im Team über Beobachtungen und Eindrücke ist essenziell, um Sprach- und Kulturhürden gemeinsam zu meistern. Schmerzassessment bei Demenz ist Teamarbeit: Alle an der Pflege Beteiligten – Pflegefachpersonen, Assistenzkräfte, Angehörige – sollten ihre Wahrnehmungen einbringen. Oft ergibt sich erst aus dem Puzzle verschiedener Beobachtungen ein klares Bild.
Zusammengefasst erfordert die sprachliche Dimension der Schmerzermittlung Kreativität und Anpassung. Pflegende sollten einfach, anschaulich und in der Sprache der Betroffenen kommunizieren, wo möglich. Nonverbale Hinweise sind gleichberechtigt neben verbalen Antworten auszuwerten.
Mithilfe validierter Beobachtungsskalen kann die subjektive Wahrnehmung objektiviert werden, um die richtigen Schritte einzuleiten. Wichtig ist dabei stets, den Betroffenen zuzuhören – auch „zwischen den Zeilen“ – und ihre Äußerungen ernst zu nehmen, selbst wenn die Sprache brüchig oder fremd ist.
Emotionale Bedeutung von Schmerz und Umgang mit Schmerz bei Demenz
Die emotionale Perspektive spielt bei Schmerz und Demenz eine doppelte Rolle: Einerseits lösen Schmerzen emotionale Reaktionen aus, andererseits können emotionale Zustände selbst als Schmerz empfunden oder ausgedrückt werden. Zudem wirken psychosoziale Faktoren maßgeblich darauf ein, wie stark Schmerz erlebt wird. In diesem Abschnitt betrachten wir, wie Gefühle, Stimmung und kognitive Veränderungen das Schmerzerleben bei Demenz beeinflussen – und wie Pflegende durch empathischen Umgang, Validation und psychosoziale Begleitung die Situation verbessern können.
1. Schmerz als Auslöser von Emotionen: Schmerz tut nicht nur weh, er macht auch etwas mit unserer Seele. Bei jedem Menschen können chronische Schmerzen Gereiztheit, Ängstlichkeit oder Niedergeschlagenheit verursachen. Bei Menschen mit Demenz zeigt sich dies oft in herausfordernden Verhaltensweisen: Unerklärliche Aggressionen, Schreien, Schlagen, Widerstand bei Pflegehandlungen, Apathie oder Schlaflosigkeit können Ausdruck anhaltender Schmerzen sein. Da die Betroffenen nicht formulieren können „Ich habe Schmerzen und brauche Hilfe“, manifestiert sich ihr Leiden in Gefühlsausbrüchen und Verhalten. Unbehandelte Schmerzen sind ein häufiger Grund für psychische Symptome bei Demenz – etwa 50 % der Pflegeheimbewohner haben Schmerzen, was oft mit Unruhe einhergeht. Ein klassisches Beispiel: Ein Herr mit Demenz schlägt beim Transfer vom Bett in den Stuhl wild um sich und beschimpft die Pflegekraft. Anstatt dies als „Aggression“ abzutun, sollte man fragen: Könnte ihm etwas weh tun? Tatsächlich könnte etwa ein unbemerkter Hüftschmerz die Ursache sein – der Transfer tut ihm weh, er kann es aber nur durch Abwehr zeigen. Wird der Schmerz durch Analgetika und sanfteres Vorgehen gelindert, verschwindet meist auch die Aggression. Schmerzmanagement ist daher immer auch Verhaltensmanagement. Mit gut eingestellten Schmerzen sinkt die Häufigkeit von Unruhe und schwierigen Pflegeepisoden deutlich.
2. Emotionen beeinflussen das Schmerzempfinden: Die Verbindung geht auch in die andere Richtung: Emotionale Zustände modulieren den Schmerz. Angst und Anspannung erhöhen erfahrungsgemäß das Schmerzempfinden, während Entspannung oder positive Erlebnisse Schmerzen dämpfen können. Bei Demenz finden wir häufig ein Gemisch aus Angst, Verwirrung und Frustration, dass die Schmerzwahrnehmung steigert. Ein verwirrter Bewohner, der nicht versteht, warum er im Pflegeheim ist, fühlt sich unsicher – dieses Grundgefühl kann einen eigentlich milden Schmerz (z. B. Druckstelle vom Sitzen) viel quälender erscheinen lassen.
Umgekehrt wirkt emotionale Zuwendung schmerzlindernd: Einfühlsame Berührung, Zuspruch oder Ablenkung durch eine angenehme Aktivität (Musik, Spaziergang) können dazu führen, dass ein demenzkranker Mensch seinen chronischen Schmerz weniger stark spürt. In der Hospizarbeit kennt man das Phänomen, dass Angst und Einsamkeit Schmerzen „verstärken“ – wenn man die Angst nimmt oder Gesellschaft leistet, braucht es oft weniger Schmerzmittel. Dieses Prinzip gilt auch in der Demenzpflege.
3. Schmerz als Ausdruck von emotionalem Leid: Bei fortgeschrittener Demenz verschwimmen Schmerz und Emotion derart, dass emotionale Qualen in „Schmerzsprache“ ausgedrückt werden. So wie jemand „Herzschmerz“ bei Liebeskummer empfindet, erleben Menschen mit Demenz seelischen Kummer oft körperlich. Beispielsweise kann sozialer Schmerz – das Gefühl der Einsamkeit oder Verlassenheit – sich als körperliches Schmerzklagen äußern. Eine Bewohnerin, die ständig „Es tut so weh!“ ruft, obwohl medizinisch keine Schmerzursache zu finden ist, könnte eigentlich tiefe Trauer oder Angst kommunizieren. Naomi Feil, die Begründerin der Validation, beschrieb etwa den Fall einer alten Dame, die immer „Es brennt, es brennt!“ schrie und an einen Heizkörper schlagen wollte. Statt sie zurückzuhalten und zu beruhigen („Da brennt doch nichts“), ging Feil auf sie ein und fragte sinngemäß: „Was brennt denn, was fühlen Sie?“ Es stellte sich heraus, dass die Frau in ihrer Jugend einen Hausbrand erlebt hatte, der unbeackert als Trauma zurückgeblieben war. Alte unverarbeitete Emotionen können sich im Demenzverlauf schmerzhaft bemerkbar machen, oft in symbolischer Sprache. Pflege- und Betreuungskräfte sollten solche Äußerungen im Kontext der Biografie interpretieren: Hinter dem scheinbar irrationalen Schmerzgeschrei könnte ein psychisches Trauma stecken – etwa Kriegsbilder, Gewalterfahrungen oder Verlusterlebnisse, die nie verarbeitet wurden und nun im Zustand der kognitiven Abbauprozesse wieder aufbrechen. Diese Erkenntnis kann helfen, geeignete Maßnahmen einzuleiten, z. B. beruhigende Rituale, Traumatherapeuten hinzuziehen oder einfach besonders viel Sicherheit vermittelnde Ansprache.
4. Validation und empathische Kommunikation: Ein zentrales Mittel im Umgang mit emotionalem Schmerz ist die Validation. Wie schon erwähnt, bedeutet Validation, den Gefühlsinhalt der Äußerungen anzunehmen und den Menschen in seiner Realität abzuholen, statt ihn zu korrigieren. Wenn ein demenzkranker Bewohner klagt „Ich habe solche Schmerzen, lasst mich sterben!“, kann das die Verzweiflung über seine Gesamtsituation ausdrücken. Anstatt reflexhaft zu beschwichtigen „Ach, so schlimm ist es doch nicht“ (was seine Gefühlswelt negiert), wäre eine validierende Antwort z. B.: „Sie halten das alles kaum noch aus, gell? Es tut Ihnen weh und Sie sehen keinen Sinn mehr...“ Diese Worte können dem Bewohner das Gefühl geben, verstanden zu werden. Häufig führt das zu einer Reduktion von Spannung und Angst – der Bewohner weint vielleicht, aber wirkt danach ruhiger, weil er sich ernst genommen fühlt. Validation ist somit ein „Schmerzlinderungswerkzeug“ auf emotionaler Ebene. Die pflegerische Anwesenheit und Anteilnahme nehmen dem Betroffenen etwas von der seelischen Last. Wichtig: Validation heißt nicht, nichts zu tun. Nachdem man das Gefühl validiert hat („Ja, es ist gerade sehr schwer und tut weh“), sollte man anbieten:
„Was kann ich tun, damit es Ihnen besser geht? Darf ich mich zu Ihnen setzen? Wollen Sie meine Hand halten?“ usw. Dadurch verbindet man emotionale Unterstützung mit konkreter Hilfe.
5. Soziale Einbindung und Sinngebung: Menschen mit Demenz spüren sozialen Schmerz z.B. wenn sie Isolation erleben oder merken, dass sie „zur Last fallen“. Pflegende können diesem Schmerz vorbeugen, indem sie soziale Kontakte und Teilhabe fördern. Auch kleine Gesten wie ein kurzer Plausch, Einbeziehen in leichte Tätigkeiten (Wäsche falten, Garten gießen) oder eine Umarmung vermitteln Wertschätzung und reduzieren das Gefühl von Wertlosigkeit. Spiritualität kann ebenfalls eine Rolle spielen: Manche Betroffene finden Trost in religiösen Ritualen (Gebet, Kirchenlieder) oder im Gespräch über Lebensfragen. Wenn jemand die Krankheit als Strafe Gottes empfindet, kann ein seelsorgerisches Gespräch helfen, diesen spirituellen Schmerz zu lindern. In der Palliative Care wird oft betont: Schmerz hat, was das Leben fehlt. Eine Sinnkrise oder tiefe Einsamkeit kann Schmerzen verstärken – umgekehrt kann das Gefühl, geborgen und nicht allein zu sein, Schmerzen erträglicher machen. Daher sollten Pflegende insbesondere bei Menschen mit Demenz darauf achten, Geborgenheit, Sicherheit und Sinneseindrücke zu vermitteln, die positive Gefühle wecken (z.B. vertraute Musik, Aromapflege, Handmassagen). All dies adressiert die emotionalen Komponenten des Schmerzes.
6. Praktische Situationen und Tipps: Im Pflegealltag gibt es viele Situationen, in denen emotionaler Beistand den Schmerz beeinflusst:
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Schmerz in der Nacht: Nachts verstärken sich Schmerzen oft subjektiv, und demenzkranke Menschen werden zusätzlich durch Dunkelheit und Alleinsein verängstigt. Ein Beispiel: Herr M. mit mittelschwerer Demenz wacht jede Nacht gegen 2 Uhr laut rufend auf und klopft ans Bettgitter. Er ruft nach seiner Mutter und wirkt panisch. Die Pflegekraft geht zu ihm, stellt ein gedimmtes Licht an, nimmt seine Hand und fragt leise, was los sei. Er stöhnt „Tut weh... Mama!“. Die Pflegerin validiert: „Sie haben Schmerzen und wollen Ihre Mama – Sie haben Angst, ganz allein so im Dunkeln.“ Der Bewohner nickt und weint leise. Die Pflegerin bleibt eine Weile, streichelt seinen Arm, hilft ihm, eine bequemere Position zu finden. Sie gibt ihm auch – nach Absprache – ein leichtes Schmerzmittel, da er Arthritis hat. Nach etwa 30 Minuten schläft Herr M. beruhigt wieder ein. Analyse: Hier waren körperlicher Schmerz (Arthritis), Angst und das Bedürfnis nach Geborgenheit miteinander verwoben. Durch eine Kombination aus Schmerzlinderung (Analgetikum, Umlagern) und emotionaler Zuwendung (Anwesenheit, Validation, Handhalten) konnte die Situation entschärft werden.
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Schmerz bei pflegerischen Maßnahmen: Frau L. mit schwerer Demenz bekommt beim Duschen oft große Angst; sie klammert sich an die Pflegeperson und schreit „Nein, nein, kalt!“ obwohl das Wasser warm ist. Man vermutet, dass ihr das Wasser auf der Haut ungewohnt ist und eventuell auch Körpererinnerungen (evtl. an früheres Unwohlsein oder Scham) auslöst, die sie nicht einordnen kann – dieses Unbehagen äußert sie als „Schmerz“. Die Lösung im Team: Statt Duschen wird sie nun mit einem warmen Umschlag gewaschen, Schritt für Schritt, und man erklärt jeden Handgriff vorab ruhig.
Außerdem darf sie ihr vertrautes Badetuch um die Schultern behalten. Sie bleibt nun viel ruhiger. Analyse: Hier zeigte sich emotionaler Schmerz in Form von Angst bei Kontrollverlust. Indem man die Prozedur anpasste und ihr Sicherheitsgefühl gab, verschwand der „Schmerz“ (das Schreien).
Diese Beispiele verdeutlichen: Emotionale Bedeutung von Schmerz heißt, die Gefühle hinter Schmerzäußerungen zu verstehen und ernst zu nehmen. Für Pflege- und Betreuungskräfte ist es essenziell, in Menschen mit Demenz hineinzufühlen und mitzudenken: Wo könnte es weh tun? Was ängstigt oder bedrückt sie gerade? Die Validation nach Naomi Feil und der person-zentrierte Ansatz nach Tom Kitwood (der betont, auf die psychischen Grundbedürfnisse wie Trost, Liebe, Identität einzugehen) bieten dafür gute Leitlinien. Schlussendlich geht es darum, Lebensqualität zu erhalten, indem man sowohl körperliches Leiden als auch seelisches Leid lindert.
Schmerzerkennung und -behandlung bei Demenz: Assessment und Pflegeinterventionen
Nach der Betrachtung der drei Perspektiven stellt sich die Frage: Wie setzen wir dieses Wissen in der täglichen Praxis um? In diesem Abschnitt werden aktuelle pflegewissenschaftliche Empfehlungen (z. B. aus Leitlinien und Standards) vorgestellt, um Schmerzen bei Menschen mit Demenz systematisch zu erfassen und zu lindern. Es geht um Assessment-Methoden, kultursensible und validierende Vorgehensweisen sowie um das Schmerzmanagement als Teamaufgabe – immer mit dem Ziel, Pflegenden konkrete Handlungsschritte an die Hand zu geben.
Ein strukturiertes Schmerzassessment bildet die Grundlage jeder Schmerztherapie. Die S3-Leitlinie „Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe“ (2017) empfiehlt ein mehrstufiges Vorgehen:
- Screening: Bei jedem neuen Bewohner in einer stationären Pflegeeinrichtung soll ein Screening auf mögliche Schmerzen durchgeführt werden. Das heißt, bereits bei Aufnahme und dann in regelmäßigen Abständen wird aktiv erfragt oder beobachtet, ob Schmerzen vorliegen – unabhängig davon, ob der Bewohner von sich aus klagt. Dieses Screening kann z.B. mit einfachen Fragen oder einer Kurzbeobachtungsskala erfolgen. Wichtig: Insbesondere Menschen mit Demenz nie einfach fragen „Sie haben keine Schmerzen, oder?“, sondern offen und ohne Suggestion screenen (ggf. Angehörige mitbefragen).
- Vertieftes Assessment: Fällt das Screening positiv aus – d.h. es gibt Hinweise auf Schmerz – schließt sich ein ausführlicheres Assessment an. Im Mittelpunkt steht dabei die Schmerzintensität (z. B. mit NRS/VRS falls möglich, sonst Fremdbeobachtungsskala). Zusätzlich sollen der Mobilitätsstatus und die funktionellen Beeinträchtigungen durch den Schmerz erhoben werden. Beispiel: Ein Bewohner mit Rückenschmerz – wie weit kann er noch gehen/sitzen, und wie stark (Skala 0–10) ist der Schmerz beim Bewegen vs. in Ruhe? Solche Infos sind wichtig für Therapieentscheidungen.
- Verlaufskontrolle: Die Leitlinie fordert eine regelhafte Verlaufserfassung. Das bedeutet, nachdem Maßnahmen eingeleitet wurden (medikamentös oder nicht-medikamentös), muss regelmäßig geprüft werden, ob diese wirksam sind oder ob das Schmerzmanagement angepasst werden muss. Praktisch: dokumentieren, ob Schmerzwerte sinken, ob der Bewohner ruhiger wird, ob die Mobilität sich verbessert, und bei Bedarf den Arzt erneut konsultieren.
- Erschwertes Selbstbericht: Ist ein Bewohner nicht mehr fähig zur Selbstauskunft, empfiehlt die Leitlinie insbesondere zu prüfen, ob potenziell schmerzhafte Erkrankungen vorliegen und ob schmerztypische Verhaltensweisen auftreten. Das heißt, man soll aktiv nach Schmerzen suchen, wenn jemand z.B. Arthrose, eine frische Fraktur, Dekubitus, Harnwegsinfekt etc. hat – auch wenn er es nicht sagt. Und man beobachtet genau auf die im vorherigen Abschnitt genannten nonverbalen Zeichen.
Diese Grundsätze stimmen überein mit dem DNQP-Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen, der verlangt, dass jeder Schmerzpatient ein individuelles Schmerzmanagement erhält, um Schmerz zu lindern, Lebensqualität zu erhalten und Schmerzkrisen vorzubeugen. Leider zeigt die Praxis, dass wir davon noch entfernt sind – so hohe Schmerzraten in Heimen (50 %) sind alarmierend. Doch mit systematischem Assessment und Sensibilisierung aller Beteiligten kann viel erreicht werden.
Schmerzskalen und Instrumente: Wie wählt man das richtige Instrument? Hier hilft ein Blick auf den kognitiven Status. Der Mini-Mental-Status-Test (MMST) gibt eine grobe Orientierung über das Demenzstadium. Bei leichten Beeinträchtigungen kann oft noch eine Numerische Rating-Skala (NRS) eingesetzt werden (der Bewohner gibt eine Zahl 0–10 für den Schmerz an). Allerdings zeigen Studien, dass schon bei leichter Demenz bis zu 57 % der Betroffenen die NRS nicht verlässlich nutzen können – sie verstehen die Skala nicht oder können die Zahlen nicht anwenden. Dann kombiniert man besser die NRS mit einfacheren Mitteln, z.B. einer Verbalen Rating-Skala (VRS). Die VRS nutzt Begriffe statt Zahlen (z.B. kein Schmerz / mild / mittel / stark / unerträglich). Man kann dem Bewohner diese Worte anbieten oder auch bildlich darstellen (etwa ein lächelndes Gesicht für „kein Schmerz“, ein weinendes für „stark“). Bei mittelschwerer Demenz gilt weiterhin: Selbsteinschätzung geht vor! – also zunächst versuchen, eine einfache Selbstauskunft zu bekommen (zur Not mit Ja/Nein-Fragen: „Tut es sehr weh?“). Parallel oder bei Scheitern greift man auf Beobachtungsinstrumente wie BESD zurück. Bei schwerer Demenz (<9 MMST-Punkte) muss man davon ausgehen, dass ein kognitiver Bedeutungsverlust vorliegt – der Betroffene versteht das Konzept Schmerz kaum noch. Hier sind Fremdeinschätzungen (BESD, BISAD, Doloplus etc.) die Hauptinformationsquelle, ergänzt durch Schmerzerkennung im Pflegeprozess.
Schmerzassessment als kontinuierlicher Prozess: Wichtig zu betonen – und hierin sind sich Standard und Leitlinie einig – ist, dass Schmerzerfassung nicht einmalig, sondern fortlaufend erfolgt. Schmerzen können neu auftreten (z.B. durch Sturz) oder sich verändern.
Darum gehört Schmerzbewertung fest in die Pflegeplanung: z.B. Schmerzbeobachtung bei jedem Dienstübergabe-Rundgang, Schmerzeinschätzung bei jedem Verbandswechsel, monatliche Schmerzanamnese im Pflegegespräch etc. Auch nach Interventionen sollte evaluiert werden: Hat die Gabe des Bedarfsanalgetikums die Schmerzzeichen reduziert? Führen neue Anti-Dekubitus-Matratzen zu besserem Schlaf und weniger nächtlichem Unruheverhalten? Dieses Evaluieren und Anpassen ist entscheidend, um eine akzeptable Schmerzsituation zu erreichen.
Praktische Vorgehensweisen bei unbekannter Schmerzursache: Manchmal stehen Pflegende vor der Situation: Bewohner zeigt Unruhe oder Schmerzsignale, aber man weiß nicht, woher. Hier ein pragmatisches Vorgehensschema – angelehnt an Expertenempfehlungen:
- Schmerz vermuten, wenn Risikofaktoren vorliegen: Hat der Betroffene bekannte Schmerzerkrankungen (z.B. Arthrose, Neuropathie) oder kürzliche Eingriffe/Verletzungen? Dann immer von Schmerzen ausgehen, auch wenn er es nicht ausdrückt. Beispiel: Jemand mit Fraktur in der Vorgeschichte, der dement ist, sollte prophylaktisch Schmerzmittel erhalten, statt zu warten, bis er vor Schmerz schreit.
- Beobachtungsverhalten heranziehen: Kennt man die Person, merkt man Veränderungen – z.B. ist ruhiger Herr K. seit Tagen aufgewühlt, läuft viel umher und ruft. Systematisch auf Verhaltensänderungen achten und gezielt auf Schmerz hin überprüfen. Besonders während Aktivitäten (Bewegung, Lagerung) zeigen sich Unterschiede: Zunahme von Unruhe oder Laute bei Bewegung deuten stark auf bewegungsabhängigen Schmerz hin. Also: Schaut, ob der Bewohner bei bestimmten Handlungen „auffällig“ wird – vielleicht tut genau das weh (z.B. beim Anheben des Arms → evtl. Schulterschmerz).
- Atypische Schmerzäußerungen berücksichtigen: Bei Demenz ist Schmerz nicht immer klar erkennbar. Ein „typisch demenzbedingtes“ Verhalten kann in Wahrheit Schmerzäußerung sein. Z.B. ständige Wiederholungen oder aggressives Verhalten haben oft organische Ursachen wie Schmerz, Infekt, Dehydratation. Darum lieber einmal mehr an Schmerz denken als einmal zu wenig.
- Analgetischen Therapieversuch unternehmen: Wenn man Schmerzen vermutet, aber keine sichere Bestätigung hat, ist ein kontrollierter Schmerzmittel-Versuch sinnvoll. Die Leitlinie empfiehlt dies ausdrücklich – quasi als diagnostisches Mittel. Gibt man z.B. abends einmal eine Paracetamol-Dosis und der Bewohner schläft daraufhin ruhiger, spricht das sehr dafür, dass Schmerz im Spiel war. Natürlich muss ein Arzt die Bedarfsmedikation anordnen, aber im Pflegealltag können Pflegefachkräfte diese Rückmeldung ans Team geben.
Medikamentöse Schmerztherapie: Die Grundlage der Schmerzbehandlung bilden in der Regel Analgetika, angepasst an die Art und Stärke des Schmerzes. Bei älteren Menschen (und speziell in Palliative Care) bewährt sich das WHO-Stufenschema, angepasst auf Multimorbidität.
Pflegekräfte sollten darauf achten, dass Basisanalgetika rechtzeitig und regelmäßig verabreicht werden, um einen konstanten Spiegel zu halten – gerade bei Demenz kann man nicht darauf warten, dass der Patient von sich aus „nach Bedarf“ verlangt. Wenn z.B. bekannt ist, dass jeden Abend Tumorschmerzen auftreten, sollte die Bedarfsmedikation eher vorweg gegeben werden, bevor der Schmerz den Betroffenen völlig aufwühlt. Gleichzeitig ist auf Nebenwirkungen zu achten (Obstipation bei Opioiden etc.) und diese ebenfalls präventiv zu behandeln.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen: Neben Tabletten und Tropfen gibt es zahlreiche pflegerische Interventionen zur Schmerzlinderung, die gerade bei Demenz hilfreich sind.
Einige Beispiele:
- Wärme- und Kälteanwendungen: Je nach Schmerzursache kann ein warmes Bad, eine Wärmflasche (mit Vorsicht), ein warmes Kirschkernkissen auf verspannten Muskeln Linderung verschaffen – oder bei Entzündungen z.B. ein Kühlpack (in Tuch gewickelt) Schwellungen reduzieren. Wichtig ist, dies behutsam einzusetzen und zu beobachten, ob der Betroffene es als angenehm empfindet. Manche Menschen mit Demenz mögen z.B. keine Kühlpacks, weil das Gefühl sie irritiert. Immer erklären und ihre Reaktion beobachten.
- Berührung und Massage: Sanfte Massagen, Streicheln oder Halten der Hand können zweierlei bewirken – körperliche Entspannung und emotionale Beruhigung. Spezielle Methoden wie Basale Stimulation oder Schmerz-Akupressur können in der Pflege eingesetzt werden, sofern geschult. Auch das Auftragen einer schmerzlindernden Salbe (z.B. Arnika bei Gelenkschmerz) kann durch die Berührungsqualität mehr bewirken als der pharmakologische Effekt allein.
- Lagerung und Mobilisation: Eine druckentlastende Lagerung (Weichlagerung bei Dekubitusschmerz), eine entspannende Position (Kissen zur Unterstützung schmerzender Glieder, Kneipp’sche Auflagen) oder auch Mobilisation (Bewegungsübungen bei Gelenksteifigkeit) gehören in den Werkzeugkasten. Bei Bewegungsübungen immer auf Schmerzzeichen achten – leichtes Ziehen tolerieren, starken Schmerz vermeiden. Kurzfristig kann Ruhe wichtig sein (z.B. bei akutem Schmerz nach Sturz), langfristig aber auch Bewegung, um Versteifungen vorzubeugen.
- Ablenkung und Aktivierung: Beschäftigung kann Schmerzen „vergessen lassen“. Ein demenzkrankes ehemals musizierendes Ehepaar, das gemeinsam singt, spürt währenddessen vielleicht die chronischen Schmerzen weniger. Filme, Gespräche, Tierbesuche, alles, was positive Emotionen weckt, kann über Gate-Control-Mechanismen Schmerzen reduzieren. Hierbei sollte es individuell angepasst sein – was der eine als wohltuende Ablenkung empfindet, überfordert den anderen vielleicht. Ein ruhebedürftiger Mensch sollte nicht mit lauter Animation gequält werden, das könnte Schmerz eher verstärken.
- Psychologische Unterstützung: Wenn erkennbar viel seelischer Schmerz besteht (Depression, Angst), können Psychologen oder psychosoziale Betreuer einbezogen werden. In der Realität der Altenpflege sind Psychotherapeuten für Demenzpatienten rar, aber Lebens- und Sozialberater, Seelsorger oder ausgebildete Gerontopsychiatrische Fachkräfte können Gespräche führen, Biografiearbeit machen und so Leid mindern. Validationstechniken sollten allen Pflege- und Betreuungskräften vertraut sein, da sie im Alltag ständig anwendbar sind.
Schmerzmanagement als Teamaufgabe: Erfolgreiche Schmerzbehandlung erfordert die vertrauensvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Beteiligten. Im Idealfall sind verschiedene Professionen eingebunden: Ärzte (ggf. Schmerztherapeuten), Pflegefachpersonen (viele Einrichtungen haben Pain Nurses oder algesiologische Fachassistenzen), Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, Seelsorger und natürlich die Angehörigen sowie der Betroffene selbst. Gemeinsam kann dieses Team eine Strategie entwickeln, um dem Menschen mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Für Pflegekräfte bedeutet das auch, im Austausch mit Kollegen zu bleiben, Fallbesprechungen durchzuführen und Hinweise weiterzugeben. Gerade in der Langzeitpflege entsteht oft ein reiches
Erfahrungswissen über einzelne Bewohner – z.B. weiß das Team, dass Frau X bei Zahnweh immer am Kinn reibt oder Herr Y bei Schmerzen in der Hüfte nicht mehr sitzen will. Diese Beobachtungen müssen untereinander kommuniziert werden. Fallbesprechungen sind ein geeignetes Mittel, um subjektive Wahrnehmungen im Team abzugleichen und so ein umfassendes Bild zu bekommen. Hier sollten alle gehört werden: auch Hilfskräfte oder Angehörige können wertvolle Hinweise geben („Papa zieht immer das Gesicht so komisch, das hat er früher nur gemacht, wenn er Migräne hatte“). Wenn sich alle auf gemeinsame Maßnahmen verständigen, ist es wichtig, dass diese dann auch konsequent umgesetzt werden und Veränderungen am Gesundheitszustand sofort weitergegeben werden.
Dokumentation und Wissenstransfer: Eine gründliche Dokumentation des Schmerzgeschehens (Wann trat was auf? Was wurde getan? Wie war die Wirkung?) unterstützt nicht nur den Informationsfluss, sondern dient auch der Qualitätssicherung. Im Verlauf kann man daraus lernen, welche Interventionen erfolgreich waren. Zusätzlich sollten Weiterbildungen zum Schmerzmanagement (z.B. Schulungen in Schmerzassessment, kultursensible Pflege, Validation) regelmäßig stattfinden, damit das Team auf aktuellem Wissensstand bleibt und sich sicher fühlt im Umgang mit Schmerz bei Demenz. Pflegewissenschaftlich gibt es laufend neue Erkenntnisse – etwa neue Analgetika oder Therapiekonzepte – die in die Praxis einfließen sollten.
Fazit: Verstehen, Lindern und Begleiten
Schmerz bei Menschen mit Demenz ist ein vielschichtiges Phänomen, das nur mit einem ganzheitlichen Blick adäquat begegnet werden kann. Kulturelle Hintergründe beeinflussen, wie Schmerz empfunden und mitgeteilt wird – Pflegende müssen kulturelle Unterschiede sensibel berücksichtigen, um niemanden zu übersehen oder misszuverstehen.
Sprachliche Hürden machen die Schmerzerfassung schwieriger, doch durch einfache Kommunikation, Beobachtungsgabe und ggf. Einbeziehung der Muttersprache des Betroffenen lassen sich auch nonverbale Schmerzäußerungen deuten. Die emotionale und psychosoziale Dimension schließlich erinnert uns daran, dass Schmerz mehr ist als ein Symptom – er berührt das Wesen eines Menschen. Menschen mit Demenz brauchen daher nicht nur Analgetika, sondern ebenso Empathie, Validation, Zuwendung und Sinnstiftung, um wirklich Linderung zu erfahren.
Für Pflege- und Betreuungskräfte bedeutet dies: Sie sind gefordert als Schmerzdedektive, Kommunikationsexperten und einfühlsame Begleiter zugleich. Die Herausforderungen sind groß – aber das Rüstzeug steht bereit: von wissenschaftlichen Leitlinien über bewährte Assessmentinstrumente bis hin zu konzeptionellen Ansätzen wie Total Pain, Validation und person-zentrierter Pflege.
Wenn Pflegende dieses Wissen nutzen, können sie Schmerz bei Menschen mit Demenz deutlich besser erkennen und behandeln. Das Ergebnis ist nicht nur weniger Leid für die Betroffenen, sondern auch ein ruhigerer, erfolgreicherer Pflegealltag.
Abschließend sei betont: Schmerzassessment und -management sind keine Luxusaufgaben, sondern Kernaufgaben in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Jede investierte Minute, um genauer hinzuschauen oder zuzuhören, zahlt sich aus – in Form von Dankbarkeit der Betroffenen, von Momenten der Erleichterung, wenn ein Schmerz nachlässt, und von dem guten Gefühl, einen Menschen ein Stück weit von seinem Leid befreit zu haben. Pflegekräfte, die Schmerz nicht nur als medizinisches Symptom, sondern in seinem kulturellen, sprachlichen und emotionalen Bedeutungsgeflecht begreifen, verfügen über einen wertvollen Schlüssel: den Schlüssel zum Verstehen und Lindern von Schmerz bei Demenz. In diesem Sinne: Schauen wir genau hin, fragen wir klug nach, fühlen wir mit – und handeln wir! Denn ein alter demenzerkrankter Mensch kann es uns vielleicht nicht mehr sagen, aber er braucht uns, um nicht im Schmerz verloren zu gehen.
Literatur und Quellen:
- Münzenhofer, T. (2019/2020): Zielgruppenspezifische Schmerzeinschätzung bei älteren Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen. Dem Goldstandard annähern. Blog Wegweiser Demenz, BMFSFJ.
- Münzenhofer, T. (2019): Schmerzen im Alter und bei Demenz – kultursensibles Schmerzmanagement, in: Vincentz Altenpflege und CAREkonkret.
- S3-Leitlinie „Schmerzassessment bei älteren Menschen in der Altenhilfe“ (DGN / DGP / AWMF, 2017)
- LICHTBLICKE-DEMENZSTRATEGIE® (T. Münzenhofer): Fortbildungsmaterialien und Publikationen (2018–2024).
- Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: Kulturgeschichte des Schmerzes – Schmerz und Kulturpsychologie.
- HPN München (2023): Total Pain von Menschen mit Demenz – Fachinformation.
- Kitwood, T. (1997): Demenzerfahrung und Person-zentrierte Pflege. (Grundlagen für Validation und emotionales Eingehen auf Schmerz bei Demenz
- Kohnen, N. (2007): Schmerzliche und nichtschmerzliche Patienten. Transkulturelle Aspekte des Schmerzerlebens. Trauma und Berufskrankheit 9 (Suppl 3), 323–328
- Lenthe, U. (2016): Transkulturelle Pflege. Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren, 2. Auflage, Wien: Facultas
- Lenthe, U. (2016): Transkulturelle Pflegepraxis. Bedürfnisse erheben – erwägen – erfüllen, Wien: Facultas
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